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Futurezone.de fragt:

Mathe hat einen schlechten Ruf. Viele Schüler fürchten sich geradezu davor. Ist das ein Problem?

Martin Hairer (Träger der Fields-Medaille) antwortet:

Das ist sicher ein Problem. Eventuell könnte man damit anfangen, Schülern besser zu erklären, woher die Mathematik überhaupt kommt. Ich habe den Eindruck, als Schüler sieht man die Mathematik irgendwie vom Himmel fallen und bekommt nie den Eindruck, dass sie von Menschen erschaffen wurde. Vielleicht sollte man Schüler dazu bringen, kleinere Beweise selber zu finden. Wenn sie in die falsche Richtung gehen, kann man einfach ein paar Schritte mitgehen und dann erklären, warum das nicht klappen kann.
Schüler beschweren sich oft, dass man in der Mathematik so viel auswendig lernen muss. Aber im Prinzip sollte man überhaupt nichts auswendig lernen. Man sollte sich eher merken, woher die Dinge kommen, damit man es selber herleiten oder entdecken kann. Mir ist bewusst, dass es schwierig ist, darauf basierend Prüfungen zu machen. Das Problem ist, dass Lehrer am Ende des Jahres Noten verteilen sollen.


Mit allem, was er sagt, hat Martin Hairer Recht. Ganz besonders mit dieser Aussage: ‚Als Schüler sieht man die Mathematik irgendwie vom Himmel fallen und bekommt nie den Eindruck, dass sie von Menschen erschaffen wurde‘. Dieser Tatsache kann man entgegenwirken, indem man erlebbar macht, wie mathematisches Wissen gewonnen wird und wurde.

Das  Erlebnis mathematischen Wissensgewinns erfordert Unterrichtssituationen, in denen Schülerinnen und Schüler selbständig etwas entdecken können. Das entdeckende Lernen ist etwas in Misskredit geraten – auch weil es zu massiv und ohne Gespür für eine sinnvolle Beschränkung eingesetzt wurde. Hierzu ein Auszug aus Weigand/Weth: „Computer im Mathematikunterricht“    Spektrum-Verlag, Heidelberg 2002, Seite 34:

Selbsttätigkeit darf nicht in zielloses Hantieren oder in unproduktiven Aktionismus abgleiten, Aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der Computer Rückmeldungen auf Fragen geben können, ist die Gefahr eines bloßen „Versuch-und-Irrtum-Verfahrens“ und eines blinden Aktionismus beim Arbeiten mit neuen Technologien sehr groß. Auch dürfen die Grenzen des Prinzips der Selbsttätigkeit nicht übersehen werden. Selbständiges Lernen setzt Wissen voraus, und es ist schlichtweg nicht möglich, die im Mathematikunterricht zu vermittelnden Inhalte, die sich im Laufe einer langen Entwicklungsgeschichte angesammelt haben, alle selbständig und selbsttätig erarbeiten zu wollen. Selbsttätigkeit erscheint nur sinnvoll in Wechselbeziehung zu einem geplant strukturierten Unterricht, wozu u.a. Vorstrukturierung der Inhalte, schülergemäße Sprache, Erarbeitung eines verankerten Vorverständnisses, Einplanung eines roten Fadens und prototypische Beispiele gehören. Insbesondere AUSUBEL hat sich kritisch mit dem „entdeckenden Lernen“ auseinandergesetzt und hervorgehoben, dass man systematisches Wissen benötigt, um neue Dinge zu entdecken; dass das entdeckende Lernen ineffektiv ist, da es viel Zeit erfordert und dass es ein Mystizismus ist zu glauben, dass man Lernenden zu besseren Einsichten verhelfe, indem man sie möglichst wenig oder gar nicht unterstütze.

Wenn aber in einem geplant strukturierten Unterricht, der vor allem der Erarbeitung eines verankerten Vorverständnisses dient,  an prototypischen Beispielen Schülerinnen und Schüler Gelegenheit zur selbständigen Entdeckung gegeben wird, dann erleben sie, wie mathematisches Wissen gewonnen wird. Nach einem solchen Erlebnis stellt sich Freude über den eigenen Entdeckungserfolg ein. In der Folge ist dann Mathematik kein Fach zum Fürchten mehr.

Auch, wenn es schlichtweg nicht möglich ist, die im Mathematikunterricht zu vermittelnden Inhalte, die sich im Laufe einer langen Entwicklungsgeschichte angesammelt haben, alle selbständig und selbsttätig erarbeiten zu wollen, so können doch Schlaglichter auf die Entwicklungsgeschichte angeboten und von Schülerinnen und Schülern nachvollzogen werden. Die historische Entwicklung mathematischer Konzepte ähnelt oft der individuellen Entwicklung der Konzepte oder verschafft mindestens einen ganz eigenen Zugang zu mathematischen Inhalten.

geschlossen: Wissensartikel
von Roland
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