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Stammbrüche

Die Ägypter (1600 bis 1500 v.Chr.) kannten nur Stammbrüche. Das sind Brüche mit dem Zähler 1. Tatsächlich lässt sich jeder Bruch, der nicht schon Stammbruch ist, in eine Summe von Stammbrüchen verwandeln. Da die Ägypter unsere heutigen Brüche nicht kannten, mussten sie derartige Umformungen nicht leisten. Aber aus heutiger Perspektive wäre diese Behauptung noch zu beweisen.

Zunächst wird ein rekursives Verfahren zur Umwandlung in Stammbrüche genannt: Zu einem Bruch b1 wird der größtmögliche Stammbruch s1 gesucht, sodass b2=b1–s1 positiv ist. Und weiter wird zu jedem Bruch bn ein größtmöglicher  Stammbruch sn gesucht, sodass bn–sn positiv ist. Das Verfahren endet nach n Schritten, wenn bn ein Stammbruch ist. Ein Beweis für das Abbrechen des Verfahrens findet sich hier: Die Ägyptische Darstellung von Brüchen mit Stammbrüchen.

Zum Beispiel 8/13 = 1/2 + 3/26 und 3/26 = 1/13 + 1/26, also ist 8/13 = 1/2 + 1/13 + 1/26.

Die Ägypter kannten dieses Rekursionsverfahren nicht. Sie hätten vermutlich erst 1/13 abgespalten und dann die Frage gestellt: Wie viele Halbe sind 7/13? Die Antwort (14/13) Halbe = (1+1/13) Halbe oder ½+1/26.

Ägyptische Regeln und Sätze

In einer Summe von Stammbrüchen durfte bei den Ägyptern jeder Stammbruch höchstens einmal vorkommen, d.h. 1/7+1/7 war keine zulässige Darstellung von 2/7. Den Bruch 2/7 zerlegen die Ägypter entweder nach der Formel:

2/(2n – 1)=1/n+1/(n(2n − 1))

oder mit Hilfe der Gleichung:

2=1+ 1/2+1/3+1/6.

Man sieht hier, dass die Darstellung eines Bruches durch Stammbrüche nicht eindeutig ist. Darüber hinaus kann man mit Hilfe dieser beiden Formeln Brüche der Form 2/(2n-1), 3/(2n-1) und 4/(2n-1) in ihre Stammbruchdarstellungen überführen.

Die Ägypter stellten Stammbrüche so dar, dass der Zähler nicht genannt wurde (er war ohnehin immer 1) und über dem Nenner ein Strich (manche Quellen sprechen auch von einem Mund) notiert wurde. Für 1/7, eine 7 mit einer Kennzeichnung darüber, schreiben wir hier 7*.

Die Addition von Brüchen fällt in der Stammbruchschreibweise leicht, solange die Summe der Stammbrüche beider Summanden nicht ein Ganzes überschreitet. In diesem Falle schreibt man einfach die Summanden auf. Wenn dabei ein Summand doppelt auftrat, benutzte man obige Formeln. Das, was wir heute einen gemischten Bruch nennen, schrieben die Ägypter als Summe aus einer natürlichen Zahl und einem oder mehrerer Stammbrüche.

Man muss davon ausgehen, dass die Ägypter das Kürzen von Brüchen bereits kannten.

Wie sie Brüche erweiterten, ist überliefert: Soll ein Bruch (z.B. 1/8) auf einen vorgegebenen Nenner (z.B. 28) erweitert werden stellten die Ägypter die Frage: Wie viele 28-tel stecken in einem Achtel? Und die Antwort 28/8 schrieben die Ägypter so: (3 + 2*); in der heutigen Schreibweise (3+1/2) mit dem stillschweigenden Zusatz „Achtundzwanzigstel“. Um den stillschweigenden Zusatz „Achtundzwanzigstel“ festzuhalten, schreiben wir die Fußnote Achtundzwanzigstel.

Addition

Als Beispiel für die ägyptische Addition mit einem gemischten Bruch als Ergebnis addieren wir 2*+3*+4*+5* wegen der besseren Verständlichkeit in unserer Schreibweise1/2 + 1/3 + 1/4 + 1/5. Zuerst stellen wir zu jedem Summanden die Frage: Wie viele Fünftel sind das? Und erhalten:

(5/2 + 5/3 + 5/4 + 1)Fünftel
= ((2 + ½) + (1 + 2/3) + (1 + ¼) + 1)Fünftel
=(5+1/2+2/3+1/4)Fünftel

Nach einer der Regeln oben ist 2/3=1/2+1/6 und daher:

=(5 + 1/2 + 1/2 + 1/6 + 1/4 )Fünftel
=(5+1 + 1/6 + 1/4 )Fünftel
=1 + 1/5 + 1/30 + 1/20

Dieses Ergebnis notierten die Ägypter so: 1 + 5* + 30* + 20*. Es erfüllte gleichzeitig die Vorliebe der Ägypter für Nenner, die Teiler von 60 sind. 60 ist Basis des ägyptischen Zahlensystems.

Die hier angegebene Fußnote Fünftel zogen die Ägypter stillschweigend mit – möglicherweise, ohne sie zu notieren. Man sieht hier, dass das Addieren von Brüchen, die bei den Ägyptern nur in ihrer Stammbruchzerlegung dargestellt waren, recht aufwändig werden konnte.

Multiplikation

Die Multiplikation gebrochener Zahlen gelingt in der Stammbruchschreibweise mit noch höherem Aufwand. Als Beispiel wollen wir auf ägyptisch (4* + 28*) ∙ (1 + 2* + 4*) rechnen. Zur Prüfung des ägyptisch gefundenen Ergebnisses rechnen wir die Aufgabe zunächst in unserer heutigen Schreibweise und nach der heutigen Methode: Der erste Faktor ist 2/7, denn 2/7 = 1/4 + 1/28.  Der zweite Faktor ist 7/4, denn 7/4 = 1 + 1/2 + 1/4. Dann ist  2/7 ∙ 7/4 = ½.

Und nun ägyptisch, allerdings – um es besser nachvollziehen zu können – auch wieder in unserer Schreibweise:

(1/4 + 1/28) ∙ (1 + 1/2 + 1/4).

Die Ägypter kannten das Distributivgesetz für Summen und sie konnten Stammbrüche miteinander multiplizieren. Das ist in der ägyptischen Schreibweise ja nichts weiter als das übliche Multiplizieren von überstrichenen Zahlen. Sie erhielten:

1/4 + 1/28 + 1/8 + 1/56 + 1/16 + 1/112.

Damit hätten es die Ägypter bewenden lassen können, denn das Ergebnis lag in Stammbruchdarstellung vor. Aber es ging ihnen auch um eine möglichst kurze Lösung. Also rechneten sie weiter: Da 28 der größte Nenner beider Faktoren ist, stellen sich die Ägypter jetzt zu jedem Bruch des Zwischenergebnisses die Frage: Wie viele 28-tel sind das und addierten alle Ergebnisse:

(7+1+(3 + 1/2 ) + 1/2 + (1 + 1/2 + 1/4 ) + 1/4)Achtundzwanzigstel

Die Ägypter wussten selbstverständlich, dass 4* + 4* = 2* und dass 2* + 2* = 1 ist. Damit kamen sie auf 14 Achtundzwanzigstel oder 1/2.

Subtraktion

Da die Ägypter noch keine negativen Zahlen kannten, war die Subtraktion nur sinnvoll, wenn der Minuend größer als der Subtrahend war. Beispiel:

1/5–1/9=(9/5 – 1)Neuntel
= (1+4/5-1)Neuntel
= (4/5)Neuntel
= (1/2+1/4+1/25+1/100)Neuntel (nach der Methode der rekursiven Abspaltung)
=1/18+1/36+1/225+1/900.

Die hier verwendete Methode der rekursiven Abspaltung kannten die Ägypter nicht. Sie mussten 4/5 als 2/5+2/5 erkennen und die beiden Sätze zur Umwandlung der Summe zweier gleicher Stammbrüche anwenden. Auf diese Weise wird die Stammbruchdarstellung der Differenz 1/5–1/9 sehr lang. Es ging darum, eine möglichst kurze Stammbruchdarstellung der Lösung zu finden. Mit einiger Erfahrung kamen die Ägypter darauf, so zu rechnen:

1/5–1/9=(6/5 – 6/9)Sechstel
= (1+1/5–2/3)Sechstel
= (1+1/5–1+1/3)Sechstel
=(1/5+1/3) Sechstel
=1/30+1/18

Division

Ob die Ägypter mit ihren Brüchen auch Divisionsaufgaben gelöst haben, ist nicht überliefert. Sie hätten es aber mit zwei kleineren zusätzlichen Regeln schaffen können. Beispiel: (1/5+1/4)/(1/7+1/3).

Zunächst muss das Produkt der Nenner der Stammbrüche des Divisors gebildet werden (erste neue Regel) und die Frage beantwortet werden: „Wie viele Einundzwanzigstel stehen in Dividend und Divisor?“

Antwort:
Dividend = (21/5+21/4)Einundzwanzigstel = (9+1/5+1/4)Einundzwanzigstel
Divisor=10Einundzwanzigstel

Nach Streichen der Fußnote (zweite neue Regel) erhält man:

9/10+1/50+1/40 = 5/10+4/10+1/50+1/40 = 1/2+2/5+1/40+1/50 = 1/2+1/3+1/15+1/40+1/50

Schlussbemerkung

Man sieht, dass die Stammbruchdarstellung beim Rechnen sehr unhandlich war. Ein entsprechendes Problem hatten die Ägypter auch in der Menge der natürlichen Zahlen. Diese waren zwar in einem System mit der Basis 60 notiert, aber es war kein Stellenwertsystem. Die Einführung unserer heutigen Bruchschreibweise hat das Rechnen in der Menge der rationalen Zahlen ebenso vereinfacht, wie die Einführung eines Stellenwertsystems in der Menge der natürlichen Zahlen. Die Geschichte der Mathematik beschreibt die Herkunft und den Überlieferungsweg des Stellenwertsystems sehr genau. Eine Herkunft der Bruchschreibweise wird eigenartigerweise nur so weit erwähnt, dass Leonardo Fibonacci sie als erster Europäer benutzte und wahrscheinlich im Zusammenhang mit seinem Studium der islamischen Mathematik kennen lernte.

geschlossen: Wissensartikel
von Roland
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