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Wenn wir von der ‚Welt, in der wir leben‘ sprechen, müssen wir wissen, dass diese Welt für jeden, der in ihr lebt, ein wenig anders gestaltet ist. Das gilt umso mehr für Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und noch viel mehr für Lebewesen einer anderen Spezies. Eine Ausstattung mit anderen Sinnesorganen (etwa mit den Facettenaugen eines Insekts) lassen die das Individuum umgebende Welt von Fall zu Fall sehr unterschiedlich wahrnehmbar werden.


Auf diesem Hintergrund soll hier folgender Frage nachgegangen werden: ‚Wohnt die Mathematik dieser Welt inne oder ist sie vom menschlichen Geist in dies Welt gebracht worden?‘ Um uns dabei nicht im weiten Feld der Mathematik zu verlieren, soll dieser Frage am Beispiel der Zahlen und des Zählens nachgegangen werden. Ob ein Insekt zählen kann, wissen wir nicht. Bei Säugetieren kann die Fähigkeit zum Zählen umso mehr nachgewiesen werden, je enger sie mit dem Menschen genetisch verwandt sind. Die Wahrnehmung unterschiedlicher Mächtigkeiten gelingt ganz offenbar auch schon auf einem Stand unterhalb des Standes der Entwicklung des Menschen. Im nächsten Schritt zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage muss es nun darum gehen, wie weit auf den Stufen evolutionärer Entwicklung die Gleichheit von Mächtigkeiten erkannt wird. Ein Schimpanse wird vermutlich erkennen, dass drei Bananen für sich und seine beiden Artgenossen ausreichen, um jedem genau eine zu geben. Ein Vorschulkind, dass noch nicht zählen kann, weiß genau, ob die verfügbaren Spielzeugautos gerecht an sich und seine Freunde verteilt werden können, wenn die Menge der Autos gleichmächtig mit der Menge der Kinder ist.

Elementarer, als die Fähigkeit zum Zählen ist die Fähigkeit zur Eins-zu-Eins-Zuordnung. Das eigentliche Zählen erfordert zusätzlich den Zahlbegriff. Dabei muss in der ersten Annäherung an den Zahlbegriff das Zahlwort oder das Zahlzeichen gar nicht bekannt sein. Es genügt das spontane Erkennen gleicher Mächtigkeiten. Will man allerdings den Zahlbegriff in weitergehende Gedanken einbauen, muss der Begriff sowohl eine Vergegenständlichung als auch eine Verallgemeinerung erhalten. Diese Vergegenständlichung ist immer an ein Zeichen gebunden. Geeignet sind hier Zahlwörter oder Zahlzeichen. Es gibt kein Denken ohne Zeichen. Dabei können Zeichen auch sogenannte ‚Superzeichen‘ sein und sich nicht in eine stenographische Darstellung fassen lassen. Die Verallgemeinerung geschieht durch das, was wir ‚Abstraktion‘ nennen. Dabei wird eine ganze Klasse von Objekten unter einem gemeinsamen Oberbegriff zusammengefasst. Bezogen auf den Zahlbegriff werden alle Mengen der Mächtigkeit ‚Fünf‘ in einem Begriff zusammengefasst. Diese Mengen besitzen die Eigenschaft der ‚Fünfheit‘. Fünfheit tritt auf dieser Welt nicht als Einzelphänomen auf, sondern als Abstraktum.

Der Mensch ist zu derartigen Verallgemeinerungen und Vergegenständlichungen fähig. Dies ist eine Leistung seines zentralen Nervensystems (ZNS), das die vermöge seiner Sinnesorgane aufgenommenen Signale verarbeitet. Auch andere Lebewesen verfügen über Sinnesorgane und über ein ZNS. Wie weit sie aber zu Vergegenständlichungen und Verallgemeinerungen, und damit letztlich zum Denken fähig sind, ist vom evolutionären Entwicklungsgrad abhängig. Bei Primaten vermutet man diese Fähigkeiten in – je nach Art – graduellen Abstufungen. Bei Tieren spricht man vom ‚Werkzeugdenken‘ als einer spezifischen Art des Denkens. Affen greifen im Wunsch des Erreichens eines Objektes ihrer Begierde bisweilen zu Werkzeugen. Um sowas in verschiedenen Situationen zu tun, müssen sie vergegenständlichen und verallgemeinern – also denken – können. Einen Zahlbegriff haben sie jedoch nicht.

Die Entwicklung des Zahlbegriffes ist eine der Leistungen des menschlichen ZNS und stellt eine elementare Voraussetzung dar für die Entstehung der Mathematik. Mathematik in all ihren Ausprägungen ist demzufolge vom menschlichen Geist in diese Welt gebracht worden. Die Möglichkeit der Entwicklung von Mathematik muss aber dieser Welt bereits vom ersten Tage an innegewohnt haben.
Forscher der Johns Hopkins University berichten von einem Versuch, der erkennen lässt, dass schon Kinder den Sinn hinter dem Zählen erkennen würden, obwohl sie erst Jahre später eigenständig mit Zahlen interagieren. In einem Alter von 14 bis 18 Monaten scheinen Kleinkinder bereits zu wissen, wofür Zahlen gut sind. Das ergab ein Experiment, bei dem Psychologen Spielzeuge versteckten und die Reaktion der Kinder beobachteten, wenn die Spielzeuge wieder zum Vorschein kamen.
In einem Fachjournal erläuterten die Wissenschaftler, wie sie vorgingen. Demnach versteckten sie vor den Augen von Kleinkindern vier Spielzeuge in einer Box. Mal zählten sie vorher die Gegenstände, mal tippten sie nur darauf und sagten »dies, dies, dies und dies«. Holten sie anschließend wieder ein Spielzeug hervor, schienen primär die Kinder, bei denen sie gezählt hatten, zu erwarten, dass auch noch weitere Teile wieder auftauchen würden. Die anderen hingegen hätten nach dem ersten zum Vorschein gekommenen Spielzeug das Interesse an der Box verloren.
Offenbar habe das demonstrative Zählen den Kindern vermittelt, dass sie es mit ‚vielen‘ Gegenständen zu tun hatten. Deren genaue Anzahl habe für die Kinder aber keine Rolle gespielt. Vorformen des Zählens sind Kindern offenbar ‚in die Wiege gelegt‘. Das deutet darauf hin, dass eine Bereitschaft zu mathematischem Denken mindestens beim Menschen ‚ab ovo‘ vorhanden ist. Dem späteren Zählen liegt als Schlüssel zum Verständnis die Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Mengen zugrunde. So haben Menschen (und nicht der ‚liebe Gott‘, wie Leopold Kronecker meinte) die natürlichen Zahlen als ‚durch ihre funktionale Rolle im Rahmen des Zählens bestimmte Abstrakta‘ geschaffen. Den Zahlen sei die Anwendbarkeit ‚gewissermaßen in die Wiege gelegt‘ –  so der Buchautor Gillespie –  ihr ‚Verallgemeinerungspotenzial‘ bis hin zur modernen abstrakten Algebra sei erstaunlich, aber kein Wunder.


Gordon Gillespie widerspricht in seinem Buch ‚Eine kleine Philosophie der Mathematik‘ der Auffassung von Mathematik, die sie vor allem als eine Wissenschaft sieht, in der ausgehend von Axiomen nach formalen Regeln (unabhängig von irgendeiner Realität) abstrakte logische Folgerungen gezogen werden. Dabei denkt er an Hilbert, wenn der in seinen »Grundlagen der Geometrie« den berühmt gewordenen Satz formuliert, nach dem »Punkte«, »Geraden« und »Ebenen« auch durch »Tische«, »Stühle« und »Bierseidel« ersetzt werden könnten. Tatsächlich aber geht die Neigung des Menschen zu mathematischem Denken eben schließlich weit über die ‚in die Wiege gelegten‘ Anteile hinaus. Hilberts Ansatz belegt dies eindrücklich und ist kein Anlass, zu widersprechen.
Richtig liegt Gillespie dagegen mit seinem Mangel an Verständnis für ein Erstaunen darüber, wie wunderbar die Mathematik die Naturerscheinungen beschreiben kann. Er sagt dazu: „Die Anwendbarkeit der Mathematik […] in unserer Welt ist vielmehr von vornherein in ihr angelegt, […] Nicht der Zusammenhang zwischen Mathematik und Welt ist erstaunlich. Das eigentlich Erstaunliche verbirgt sich vielmehr weit innerhalb der Grenzen des mathematischen Reichs selbst.“ Das macht Gillespie zum Beispiel an dem Weg der Kugel in einem Galton-Brett deutlich: Diesen kann man als eine 0-1-Folge darstellen und darauf die Binomialverteilung anwenden – dass man dann aber überraschenderweise mit der eulerschen Zahl e zur Normalverteilung kommen kann, sei nicht in der Natur angelegt, sondern eine grandiose innermathema-tische Entdeckung.

geschlossen: Wissensartikel
von Roland
Avatar von 123 k 🚀
Die Möglichkeit der Entwicklung von Mathematik muss aber dieser Welt bereits vom ersten Tage an innegewohnt haben.

Weil du lediglich von Möglichkeit sprichst, hat mich das an den Potentialismus erinnert, der bei Neunhäuserer in der "Einführung in die Philosophie der Mathematik" diskutiert wird. Das würde aber bedeuten, dass die Mathematik zumindest potentiell unabhängig vom Gedachtwerden ist - was heißt das für die Ontologie mathematischer Objekte?

Das deutet darauf hin, dass eine Bereitschaft zu mathematischem Denken mindestens beim Men-schen ‚ab ovo‘ vorhanden ist.

Ich finde, dass der Innatismus, auf den du rekurrierst, das Problem nicht wirklich löst, denn es verschiebt die Frage dahin, woher wir diese "angeborene Ideen" haben.

Mathematik zumindest potentiell unabhängig vom Gedachtwerden ,,,

Ja, es kracht auch dann, wenn niemand es hört, Und die Gesetze des freien Falls gelten auch, ohne dass sie entdeckt wurden.

es verschiebt die Frage dahin, woher wir diese "angeborene Ideen" haben ...

Woher hast du dein angeborenes 'Menschsein'?

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