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Nach dem Willen der Bildungspolitik ist das Ziel von Mathematikunterricht die Befähigung der Schüler*innen zur Lösung lebensweltlicher Probleme mit den Mitteln der Mathematik. Voraussetzung dafür ist, dass Schulunterricht die erforderlichen Mittel der Mathematik zur Verfügung bereitgestellt hat. Im Zuge dieser Bereitstellung von Mitteln müssen Themen behandelt werden, deren später anwendbare Anteile nicht sofort sichtbar sind. So gesehen muss Mathematikunterricht erst einmal mathematisches Wissen vermitteln, das im zweiten Schritt dann angewendet werden kann.

Das Erlebnis mathematischen Wissensgewinns wird von Schüler*innen umso intensiver empfunden, je mehr selbständiges Entdecken dabei ermöglicht wird. Die Entdeckung eines überraschenden und erklärungsbedürftigen Sachverhalts ist dabei für Schüler*innen besonders motivierend. Anlass zu einer Entdeckung kann eine Frage sein, welche manche Schüler*innen sich selbst stellen. Überwiegend stellen aber Lehrer*innen oder gute Lehrbücher Fragen, die Anlass zu einer Entdeckung geben.
So kann zum Beispiel im Mathematikunterricht oder als Hausaufgabe die Aufgabe gestellt werden, folgende Tabelle auszufüllen und eine Entdeckung hypothetisch zu formulieren:

nSumme S der kleinsten
n natürlichen Zahlen
S2Summe der kleinsten
n Kubikzahlen
1


2


3


4


5


Die Hypothese kann dann lauten:
Das Quadrat der Summe der kleinsten n natürlichen Zahlen ist gleich der Summe der kleinsten n Kubikzahlen.
Formal kann die Hypothese so formuliert werden:    ( \( \sum\limits_{k=1}^{n}{k} \))2=\( \sum\limits_{k=1}^{n}{k^3} \).

Nun muss die Hypothese bewiesen werden. Dafür müssen heuristische Verfahren und Prinzipien zur Verfügung stehen und eingesetzt werden. Auch nützen manchmal Tricks und Kniffs (z.B.: Addition von 0 in der Differentialrechnung, Multiplikation mit 1 in der Bruchrechnung, Hilfslinien in der Geometrie). Die Beweisidee kann auch als Geistesblitz auftauchen oder im Abrufen eines Standardverfahrens bestehen. Letzteres ist in der oben genannten Aufgabe der Fall; hier gelingt ein Beweis durch vollständige Induktion. Die erste Schwierigkeit besteht dann in einer Neuformulierung der Hypothese in einer Form, welche durch vollständige Induktion bewiesen werden kann. Sprachlich lautet diese Form:


Ist unter der Voraussetzung, dass das Quadrat der Summe der ersten n natürlichen Zahlen gleich dem Quadrat der ersten n Kubikzahlen ist, auch das Quadrat der Summe der ersten n natürlichen Zahlen vermehrt um (n+1)3 gleich dem Quadrat der Summe der ersten n+1 natürlichen Zahlen?  


Formal muss die Gleichung (\( \sum\limits_{k=1}^{n}{k} \))2+(n+1)3=(\( \sum\limits_{k=1}^{n+1}{k} \))2 bewiesen werden.  
Nicht nur in diesem Falle erfordert die Beweisführung Vorwissen (hier: Summenformel für die Folge der natürlichen Zahlen sowie Regeln und Gesetze der Termumformung).

Heute glaubt man vielfach, die Motivation zum Mathematiktreiben läge ausschließlich in der Anwendung mathematischer Sätze auf lebensweltliche Fragen. Der Weg zu diesen Sätzen ist aber zu Beginn oft noch frei von jeglichem Anwendungsbezug. Man denke einmal an Regeln der Bruchrechnung, die zunächst einmal für sich gewürdigt werden müssten, bevor sie in Lösungen lebensweltlicher Probleme eingebaut werden. Heutiger Mathematikunterricht empfiehlt stattdessen den Griff zum digitalen Werkzeug. Ob das digitale Werkzeug allerdings tatsächlich einen verständigen Zugang zur Bruchrechnung unterstützt, darf bezweifelt werden. Offenbar hat man sich damit abgefunden, dass die zur Problemlösung erforderliche Mathematik vom Himmel fällt.


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Ein Hoch auf das Bundesland, welches die vollständige Induktion noch im Rahmenlehrplan hat. Gibts da überhaupt eines. Bereits in meiner Schulzeit gehörte die vollständige Induktion zu den Kann-Themen, die ein Lehrer machen kann, aber nicht muss. Genauso wie die komplexen Zahlen.

Auch das Summenzeichen gehört nicht zu den Themen, die jeder Schüler kennen muss. Einige Lehrer lassen es sich aber nicht nehmen, das Zeichen an einer Stelle zu erwähnen, bei der die Benutzung durchaus hilfreich fürs Verständnis ist.

Auch eine Aussage wie "Heutiger Mathematikunterricht empfiehlt stattdessen den Griff zum digitalen Werkzeug." ist so unhaltbar. Kein Lehrer verzichtet auf die Kenntnis der Bruchrechenregeln und empfiehlt stattdessen ein digitales Hilfsmittel.

Schade, wenn ein Leser erstmal sämtliche gemachte Aussagen auf Richtigkeit hinterfragen muss.

Avatar vor von 493 k 🚀

Vollständige Induktion hatte unser Mathelehrer am Gymnasium (80er-Jahre, Nordwestschweiz) gottseidank (sahen wir damals anders) bis zum Abwinken (formulierten wir damals anders) durchgezogen. Die zweitbeste Tochter der Welt hat das auch um 2020 herum noch gelernt. Ihre Anwendung ging dann so: "Es ist unstreitig ok, nach der Party pünktlich nach Hause zu kommen. Zweitens ist es nicht schlimm, 5 Minuten später zu kommen als das, was ok ist. Daraus folgt, es kann nicht schlimm sein, erst am frühen Morgen aufzutauchen... vollständige Induktion, hab ich in der Schule gelernt!"

... und die beste Tochter kann mit vollständiger Induktion sicher nachweisen, dass alle n Pferde einer Herde die gleiche Farbe haben.

https://de.wikipedia.org/wiki/Pferde-Paradox

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