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George Polya (1887-1985) soll gesagt haben: „Meine Schwierigkeit beim Verständnis der Mathematik: Wie wurde sie entdeckt?“ Ich vermute, dass er im Rahmen einer Problemlösung die Frage stellen wollte: „Wie kommt man auf diese Lösung?“ Auf die Frage: „Wie wurde die Mathematik entdeckt?“ gibt es nämlich durchaus eine Antwort:

Als der frühe Jäger und Sammler müde wurde, stellte er sich die Frage: „Kann ich zu meinen Leuten zurück gehen, weil ich genügend erlegt und gesammelt habe?“ Für eine Antwort musste er auf Erfahrungen zurückgreifen, die ihm Anhaltspunkte gaben. Welche Menge brauche ich für jeden einzelnen aus meinem Stamm, um bis zum nächsten Aufbruch auf die Jagd oder das nächste Früchtesammeln auszukommen? Dazu musste er vor seinem geistigen Auge die Jagdbeute und das Gesammelte in Portionen (Einheiten) teilen und der Menge seiner Stammesmitglieder zuordnen. Damit dies gelingt musste er zwar nicht zählen können, aber er musste intuitiv eineindeutig zuordnen können. Etwas Entsprechendes leisten Vorschulkinder, welche genau die passende Anzahl von Spielzeugautos für sich und die in der Sandkiste Wartenden nach draußen bringen. Während sie die Autos aus der Spielkiste nehmen, denken sie an Max, Jana, Lukas und so weiter.

Charles Sanders Peirce sagte: “There is no thinking without signs.” Was also waren die Zeichen, in denen der Steinzeitmensch gedacht hat? Die allerersten Zeichen, in denen überhaupt gedacht wird, sind die realen Objekte der Umwelt – hier also das erlegte Tier oder die gesammelte Frucht einerseits sowie die Mitglieder des Stammes andererseits. Und das frühe Denken muss die Erinnerung an diese realen Objekte unter Einbeziehung vorausgehender Erfahrungen gewesen sein. Die realen Objekte der Umwelt sind unterscheidbar – sie haben also unterschiedliche Qualitäten. Außerdem sind auch unterschiedliche Quantitäten der realen Objekte gleicher Qualität wahrnehmbar. Ohne die Fähigkeit Quantitäten und auch Qualitäten wahrnehmen und unterscheiden zu können, hätte der Mensch niemals die Tür zur Mathematik öffnen können. Dazu musste der frühe Mensch nicht in der Lage sein, die Quantitäten zu benennen. Aber er musste in der Lage sein, Quantitäten einer Qualität eineindeutig Quantitäten einer anderen Qualität zuzuordnen. Die beiden fundamentalen Ideen, aus denen die Mathematik entstanden ist, sind
- die Idee der Qualitas,
- die Idee der Quantitas.
Irgendwann in der Geschichte der Menschheit muss das Bedürfnis erwacht sein, unterschiedliche Quantitäten mit unterschiedlichen Zeichen auszudrücken. Diese unterschiedlichen Zeichen waren zunächst identische Symbole, deren Anzahl der damit bezeichneten Quantität entsprach. Die Zeichen ||| und ||||| bezeichneten unterschiedliche Quantitäten. Schon die Sumerer drückten solche Zeichen in weichen Ton ein, sodass sie nach dem Erhärten dauerhaft erhalten blieben. Um das Verfahren des Bezeichnens von Quantitäten abzukürzen, erfand man wiederum später in der Geschichte der Mathematik Sammelzeichen, die verabredungsgemäß für viele Einzelzeichen standen. So schreiben die Römer V statt ||||| und X statt ||||||||||.

Bei der Interaktion der Menschen untereinander entstanden immer wieder Situationen, in denen Quantitäten miteinander verknüpft werden mussten. Wenn z.B. Person A fünf Ziegen an Person B verliehen hatte und B drei davon zurückgab, mussten V und ||| verknüpft werden, was in diesem Falle leicht durch das Expandieren von V zu ||||| bewerkstelligt werden konnte. Bei größeren Quantitäten mussten für Verknüpfungen bestimmte Verknüpfungstechniken geschaffen werden. Eine schon im Papyrus Rhind beschriebene Technik zur Multiplikation zweier Quantitäten basierte auf dem fortgesetzten Halbieren des einen Faktor bei gleichzeitigem Verdoppeln des anderen Faktors. Diese Verknüpfungstechnik ist dermaßen elementar, dass sie bis heute in Computern verwendet wird. Man kann sagen, dass das Halbieren und Verdoppeln fundamentale Ideen der Verknüpfung sind. Damit gehören sie in die Sammlung fundamentaler Ideen der Mathematik ebenso, wie die Idee der Zahl – allerdings auf einer deutlich elementareren Stufe.
Die römische Darstellung von Zahlen erwies sich auf die Dauer als unzweckmäßig bei höheren Rechenarten mit großen Zahlen. Ursache dafür war vor allem die Tatsache, dass der Wert einer Ziffer innerhalb einer Zahl nur von ihrer Darstellung als Zeichen festgelegt wurde und nicht von der Stelle abhing, an der die Ziffer innerhalb der Zahl stand. Diesen Mangel zu erkennen und zwecks Abhilfe das Stellenwertsystem von den Indern zu übernehmen, war eine große Leistung mittelalterlicher, abendländischer Mathematik.

In der Kommunikation der Menschen untereinander wurde es irgendwann notwendig, Zahlzeichen nicht allein symbolisch darzustellen, sondern auch über Quantitäten zu sprechen. Damit wurden Zahlwörter erforderlich. Und für die Verknüpfungen von Quantitäten wurden zunächst Verknüpfungszeichen notwendig, die später ebenfalls verbalisiert wurden. Heute weiß jedes Schulkind, was mit ‚fünf minus drei‘ gemeint ist und auch in der stenographischen Form 5 – 3 wird diese Verknüpfung von Quantitäten verstanden.

Die oben bereits aufgeführte eineindeutige Zuordnung von Quantitäten einer Qualität zu gleichmächtigen Quantitäten einer anderen Qualität taucht in der Geschichte der Mathematik immer wieder auf und wird heute als ‚fundamentale Idee des funktionalen Zusammenhangs‘ bezeichnet. Lange bevor Descartes die Koordinatengeometrie erfand, ordnete Nikolaus von Oresme im 14. Jahrhundert bei seinen Abhandlungen über Kegelschnitte jeder Quantitas (Stelle auf einer Symmetrieachse) ein Qualitas (Durchmesser des Kegelschnitts an dieser Stelle) zu. Wie wir gesehen haben, ist die Idee dieser Zuordnung die fundamentalste Idee der Mathematik überhaupt. Sie entstand schon sehr früh aus alltäglichen Gegebenheiten, ohne deren Bewältigung der Mensch wohl gar nicht überlebt hätte. Seither ist die Mathematik mit ständig höherer Wachstumsgeschwindigkeit gewachsen. Ihr Ursprung ist aber immer noch sichtbar, wenn man nachvollzieht, wie ein Kind seine ersten Schritte in die Mathematik geht.

geschlossen: Wissensartikel
von Roland
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„Kann ich zu meinen Leuten zurück gehen, weil ich genügend erlegt und gesammelt habe?“

Die entsprechende Frage stellt sich jede Amsel, die zu ihren Jungen zurück ins Nest fliegt.

@ hj2166: Da hast du recht. Und somit ist bewiesen, dass der Keim zur Mathematik in Reich der Tiere grundsätzlich in jedem Individuum angelegt ist. Dass es bei der Amsel dann nicht weiterging, ist eine spannende Frage, die letztlich wohl bei den Unterschieden zwischen Mensch und Tier landet.

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