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Unbestritten nützlich ist der Einsatz von Computer und Taschenrechner im Mathematikunterricht dann, wenn

  1. Wirkungen der Veränderung einzelner Parameter auf ein Gesamtsystem anschaulich gemacht und untersucht werden sollen,
  2. große Anzahlen von Beispielen zur Erhärtung einer Hypothese dienen können,
  3. mühselige und zeitraubende Rechnungen wegen ihrer Komplexität vom eigentlichen Gedankengang ablenken,
  4. das Nachschlagen in einem Tafelwerk erspart wird,
  5. nur rekursive Verfahren zur (näherungsweisen) Bestimmung von Lösungen vorliegen und explizite Formeln nicht oder noch nicht existieren,
  6. das Arbeitsgedächtnis in seiner begrenzten Kapazität entlastet werden kann.

Zu jedem dieser sechs Punkte soll beschrieben werden, welche Chancen und welche Risiken hinsichtlich des Erfolges bei der Vermittlung von Mathematik darin liegen.

Zu 1: Bedeutung von Parametern anschaulich machen und untersuchen

Man denke hier zum Beispiel an den unbestreitbaren Nutzen dynamischer Geometrieprogramme, wo „Wanderungen“ eines einzelnen Punktes alle Veränderungen davon abhängiger Punkte und Größen innerhalb einer geometrischen Konstruktion automatisch „nach sich ziehen“. Dem aufgeweckten Schuler drängen sich angesichts solcher Demonstrationen angemessene Hypothesen geradezu auf. Zu befürchten ist allerdings, dass sein Bedürfnis nach einem Beweis der Hypothese gleichzeitig deutlich nachlässt. Für Schülerinnen und Schüler haben Rechnerergebnisse eine viel zu hohe Überzeugungskraft, die der Lehrer von Zeit zu Zeit durch geeignete Beispiele erschüttern muss.

Ein weiteres schönes Beispiel für die Wirkungen der Veränderung einzelner Parameter auf ein Gesamtsystem ist die Darstellung einer Graphenschar mit Hilfe des GTR oder des CAS, welche dem Schüler nachhaltig verdeutlicht, welche Bedeutung bestimmte Parameter der Funktionsgleichung haben.

Bevor man allerdings Graphen elektronisch bereitstellt, muss jedem Schuler völlig klar sein, wie man die Graphen auch im vorelektronischen Zeitalter gewinnen konnte. In der heutigen Oberstufe wissen viele Schülerinnen und Schüler nicht, wie man zu einer gegebenen Stelle x = a den zugehörigen Funktionswert f(a) findet, ja nicht einmal, was f(a) überhaupt bedeutet und dass man das Ganze „f von a“ und nicht etwa „f mal a“ liest. Eine Schülerin oder ein Schüler mit derartigem Mathematikverständnis sagt ohne rot zu werden: „Der Graph einer Funktion ist das, was im Grafikfenster erscheint, wenn ich den Funktionsterm eingebe und dann auf Graph drücke.“ Das kann aber nicht das Ziel unseres Mathematikunterrichts sein.

Zu 2.: Hypothesen widerlegen oder erhärten

Unsere Schulmathematik wird zunehmend ärmer an Themen, bei denen es um Hypothesen geht, die vor allem nach Berechnung einer großen Datenmenge gefunden werden können und bei denen dann ein Rechner eine große Bereicherung darstellt. Hier liegt ein eigenartiger Widerspruch, dem kein Didaktiker bisher auf den Grund gegangen ist: Wenn die elektronischen Hilfsmittel für die Mathematik immer wichtiger werden, dann doch gerade in diesem Zusammenhang, der aber immer stärker aus dem Stoffplan verdrängt wird.

Es seien einige Beispiele genannt auf die Gefahr hin, dass kein Bezug (mehr) zum realen Unterrichtsgeschehen existiert:

  • Summenformeln für Reihen können zum Beispiel gefunden werden, indem man einer zuvor berechneten Teilsummenfolge ein Muster ansieht.
  • Über Grenzwerte unendlicher Folgen und Reihen können an Hand ihrer graphischen Darstellung sinnvolle Vermutungen aufgestellt werden.
  • Dass die Langen von Diagonale und Seite eines Quadrats inkommensurabel sind, zeigt uns ein primitives Computerprogramm eindringlicher als alle Theorie.
  • Auch das Entdecken und Verstehen einiger Hypothesen und Verfahren zur elementaren Zahlentheorie werden durch elektronische Werkzeuge wesentlich erleichtert.

Beim Letztgenannten denke ich vor allem an modulare Betrachtungen. Es gab Zeiten, in denen war der Begriff „Restgleichheit“ Unterrichtsgegenstand in der sechsten Klasse. Heute werden nicht einmal mehr Teilbarkeitsregeln erwähnt. Ist ja klar: Wir haben einen Knecht der uns die Frage der Teilbarkeit in jedem Falle zuverlässig beantwortet. Aber soll sich nun wirklich Mathematikunterricht daran orientieren? Und passt das zu der großen Bedeutung, welche die modulare Arithmetik in jüngster Zeit gewonnen hat?

Zu 3.: Rechnen

Die Aufgabe 3,4561 · 7,2487 kann mit dem Taschenrechner gelöst werden, ohne dass die Mathematik dabei Schaden nimmt. Die Größenordnung des Ergebnisses allerdings sollte feststehen, bevor ein Hilfsmittel eingesetzt wird. Vom mathematischen Standpunkt aus betrachtet, ist das genaue Ergebnis sogar uninteressanter als seine Größenordnung. Dass heute Schülerinnen und Schüler dazu neigen, jede noch so einfache Aufgabe mit dem Taschenrechner zu rechnen, mag man bedauern, ist aber noch keine mathematische Sünde. Unverzeihlich wird die Sache erst dann, wenn unmittelbar sichtbare Ergebnisse (25 : 2,5 = 10) nicht gesehen werden und die dann einsetzende Tipperei von der eigentlichen Aufgabe ablenkt (ganz zu schweigen von der bedenkenlosen Weiterverwendung von Zwischenergebnissen, die durch Bedienungsfehler entstellt wurden).

Auch darf die intellektuelle Leistung, die darin liegt, ein Ergebnis zu „sehen“, nicht unterschätzt werden. Dieses „Sehen“ findet auf allen Ebenen statt und ist ein entscheidender Wesenszug des Mathematik-Treibens. Also bitte nicht achtlos beiseiteschieben.

Rechengesetze müssen beherrscht werden, auch dann, wenn das Rechnen der Taschenrechner übernimmt. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen müssen die Rechengesetze als Mittel zur Rechenvereinfachung begriffen werden (man denke an den jungen Gauß und seine Summenformel für die ersten 100 natürlichen Zahlen). Zum zweiten benötigt man alle Regeln und Gesetze, die für Zahlen gelten im Rahmen der Schullaufbahn irgendwann auch für Terme (man denke an die Umformung eines Differenzenquotienten zum Zwecke der Grenzwertbetrachtung).

In manche Ländern, zum Beispiel der Türkei sind Taschenrechner bis in die Hochschulaufnahmeprüfung hinein im Schulunterricht verboten. Beobachtungen in der deutschen Abteilung eines großen Istanbuler Gymnasiums zeigen, dass die türkischen Schüler seltener gegen Rechengesetze verstoßen und trotz eines sehr ergebniszentrierten Unterrichts über deutlich höhere Problemlösekompetenzen verfügen als vergleichbare deutsche Schuler.

Zu 4.: Tafel-Ersatz

Die Zeiten der logarithmischen Berechnung trigonometrischer und anderer Größen sind mit der Einführung des Taschenrechners vorbei und das ist auch gut so. Die allermeisten Wurzeln, Logarithmen, Sinus- und Kosinuswerte kennt niemand auswendig und ihr Nachschlagen in einer Tafel ist auch nicht geistreicher als ihr Aufruf im Display eines Rechners. Allerdings gilt hier fast das Gleiche wie im Absatz zuvor: Die Wurzel aus 64 und den Logarithmus von 8 zur Basis 2 muss schon deshalb ohne Taschenrechner gefunden werden können, weil auf diese Weise der Nachweis erbracht wird, die Begriffe „Wurzel“ oder „Logarithmus“ und deren mathematischen Gehalt wirklich verstanden zu haben. Es kann außerdem nicht schaden, geometrische Figuren zu kennen, welche bestimmte Sinus-, Kosinus- und Tangenswerte evident machen.

Zu 5. Erweiterung des Spektrums der Lösungsmethoden

Die Mathematik braucht keine Modernisierung ihrer Inhalte mit der Begründung, dass sich die Hilfsmittel zum Betreiben von Mathematik verändern. Natürlich muss sich Mathematik verändern und das tut sie ja auch und zwar vor allem, indem sie wächst. Und in der großen Mathematik ist das ein gesundes Wachstum, in dem Wildwuchs und Wucherungen rasch abgestoßen werden. Im Schulbereich dagegen können sich Krebsgeschwüre so lange vergrößern, bis es weh tut. (Man denke an „Mengenlehre“ oder „Chaos und Fraktale im Mathematikunterricht“). Wenigstens aus dem zweiten Beispiel sollten wir lernen, dass folgende Begründung keine Tragfähigkeit besitzt:„Weil wir das jetzt technisch machen können, müssen wir es tun.“ Es gibt allerdings eine Ausnahme:

Rekursive Verfahren gewinnen mit Recht an Bedeutung. Computer und Taschenrechner sind hier die idealen Hilfsmittel und erst durch sie konnte die Bedeutung der Verfahren so groß werden. Nullstellen von Funktionsgraphen – um nur ein Beispiel zu nennen – lassen sich heute problemlos mit hoher Genauigkeit bestimmen. Dennoch sollten Schüler weiterhin in der Lage sein, die Nullstellen linearer Graphen und quadratischer Parabeln ohne Rekursionsverfahren zu bestimmen.

Schüler sollen auch und gerade in diesem Zusammenhang lernen, unter verschiedenen Methoden sachgerecht auszuwählen und die Ergebnisse – etwa hinsichtlich ihrer Genauigkeit – zu bewerten. Als Lösung der Gleichung x² + 2x = 1 geben Schülerinnen und Schüler gern auch die Zahl 0,4142135624 an. Man sollte ihnen klar machen, dass dies ein Ergebnis von mathematisch geringer Quälitat ist.

Rahmenrichtlinien und Kerncurricula verzichten heute einfach auf Themen aus dem „klassischen“ Mathematikunterricht, wie z. B. die propädeutische Elementare Zahlentheorie. Wer der Frage nach dem gemeinsamen Teiler großer Zahlen aber ausweicht, weil der Taschenrechner die Brüche addiert, beraubt die Schüler einer ganzen Reihe damit zusammenhängender tiefgreifender Erkenntnisse und Entdeckungen. Gerade die Entdeckung und Anwendung rekursiven Denkens bietet sich beim Thema „größter gemeinsamer Teiler“ unmittelbar an und steigert die Methodenkompetenz selbst junger Schülerinnen und Schüler ganz wesentlich.

Übrigens: Kinder lieben rekursive Vorgange („Es war einmal ein Mann, der hatte 7 Söhne....“; „Ein Hund lief in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. ...“). Auch hier ist die neuere Mathematikdidaktik, die den Rechner zwar favorisiert, ihn aber gleichzeitig wesentlicher Anwendungsvorteile beraubt, nicht geradlinig.

geschlossen: Wissensartikel
von Roland
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Zu 6.: Entlastung des Arbeitsgedächtnisses

Computer und Taschenrechner sind nichts weiter als Hilfsmittel des Mathematiktreibenden, wie Zettel, Bleistift, Zirkel, Lineal und (früher) Tafelwerk. Keines dieser Hilfsmittel nimmt eine grundsätzlich vorrangige Position ein. Die Mathematik selbst findet im Kopf statt und die Hilfsmittel helfen uns vor allem, Kapazitätsschwächen unseres Arbeitsgedächtnisses auszugleichen. Das ist gut so und in diesem Sinne sollten wir jedes Hilfsmittel nutzen, das uns zur Verfügung steht.

Zweierlei sollten wir dabei nicht aus dem Auge verlieren. Erstens: die Nutzung von Computer und Taschenrechner kann auch Zugänge zu wichtigen mathematische Erlebnissen verstellen. Und zweitens: Auch der Erwerb einer wichtigen heuristischen Kompetenz kann behindert werden. Dies bedarf der Erläuterung:

Wie bereits erwähnt, brauchen wir Hilfsmittel, um Kapazitätsschwächen unseres Arbeitsgedächtnisses auszugleichen. Scheitert nun ein denkendes Gehirn an fehlenden Hilfsmitteln? Zum Glück nicht immer. Die großen Mathematiker der vergangenen Jahrhunderte sind hier die besten Beispiele. Das trainierte Gehirn hat nämlich die wunderbare Fähigkeit, welche das Arbeitsgedächtnis auf eine ganz andere Weise entlastet: Die Fähigkeit zur Bildung von Superzeichen. Die Ausprägung dieser Fähigkeit bedarf des Trainings. Der Computer ist für dieses Training ebenso untauglich, wie das Auto für das Training des Langstreckenlaufes. Der mehrfache Olympiasieger Abebe Bikila wurde deshalb ein hervorragender Langstreckenläufer, weil er als Leibwächter des Kaisers Haile Selassi gezwungen war, alle Botengänge im Laufschritt zurück zu legen. Gauß und Euler haben mangels elektronischer Hilfsmittel sehr lange Wege zu Fuß gehen müssen. Man weiß, wozu das gut war!

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